Schriften zu Europa 1958-1966

Allgemeiner Anzeiger 21.11.1958

Kaiser Wilhelm II im Exil

Direktor Schneider berichtet aus der Deutschen Schule in Den Haag

Direktor Clemens Schneider von der Deutschen Schule in Den Haag – er war früher Studienrat an der Elisabeth-Charlotte-Schule in Bad Kreuznach ­– schickte uns aus seinem holländischen Wirkungskreis folgende Betrachtung:

Am 10. November1918 meldete sich bei dem Sergeanten Pinckaers an dem belgisch-niederländischen Grenzort Eysden Kaiser Wilhelm II. mit einem Gefolge hohe Offiziere und bat um die Erlaubnis, auf niederländisches Hoheitsgebiet übertreten zu dürfen. Die kaiserliche Kutsche, an deren Türen die Embleme des kaiserlichen Hauptquartiers unkenntlich gemacht worden waren, durfte passieren. Sie wartete, bis am Nachmittag der kaiserliche Eisenbahnzug ebenfalls in die Station ein fahren durfte. Eine Nacht verbrachten Majestät im Schlafwagen des Extrazuges. Unterdessen rang sich die niederländische Regierung in Den Haag zu dem schweren Entschluss durch, dem flüchtigen Kaiser Exil auf holländischem Boden zu gewähren.

Es ist das ausschließliche Verdienst Königin Wilhelminas, dass es nicht zu einem ersten Nürnberg gekommen ist. Der Kaiser wurde nicht als Kriegsverbrecher nach Frankreich ausgeliefert. Er erhielt Gastfreiheit unter der Bedingung, dass er sich nicht mehr politisch betätige. Am 11. November gestattete man dem kaiserlichen Extrazug, nach Amerongen weiterzufahren. Bei Graf Bentinck auf Schloss Amerongen fand der Kaiser Aufnahme und unterzeichnete dort am 28. November die Abdankungsurkunde. An der Straße Amerongen – Utrecht, acht Kilometer von Amerongen entfernt, kaufte der Kaiser den Landsitz Doorn, in den er 1920 übersiedelte. In dem gleichen Jahr 1920 starb seine Gemahlin Kaiserin Auguste Viktoria. Zwei Jahre später schloss der Kaiser eine zweite Ehe mit Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath. Er selber verstarb 1941 im Hause Doorn. Nach dem zweiten Weltkrieg beschlagnahmte die niederländische Regierung das Haus Doorn. Heute ist es Museum und jährlich schreiten die Touristen durch Park und Gemächer, um zu schauen, wo der letzte regierende Hohenzoller seinen Lebensabend verbrachte.

Seelsorger des Kaisers

Was bis jetzt gesagt wurde, könnte man in einer Biographie auch nachlesen. Aber die Erinnerung an Wilhelm II. wird wach, wenn die Schüler der Deutschen Schule in Den Haag ihren Religionslehrer, den Seelsorger der deutsch-evangelischen Gemeinde, Pfarrer P. Kaetzke, bestürmen: „Herr Pfarrer, erzählen Sie uns bitte von Kaiser Wilhelm!“ Sie tun das oft, denn Pfarrer Kaeztke betreute den Kaiser von 1914 bis 1918 als Seelsorger und Prediger. Er war beim Hinscheiden des Kaisers zugegen. Daher weiß er soviel aus den häufigen Unterhaltungen mit dem Monarchen.

Er sei ein sanftmütiger Mensch gewesen, der sein ganzes Leben lang unter der körperlichen Behinderung des verkürzten, versteiften linken Armes gelitten habe. Wie es dazu gekommen sei? Als Kleinkind sei der Kaiser durch die Unachtsamkeit der Gouvernante von einem Tisch gefallen. Diese habe aus Furcht vor der strengen Kaiserinmutter den Unfall verschwiegen. So sei frühzeitige ärztliche Hilfe versäumt worden. Wilhelm habe später eine strenge preußische Erziehung mitgemacht, musste einhändig reiten lernen, habe aber nie diese körperliche Behinderung verschmerzt, ja, es seien daher wohl gewisse Komplexe zu verstehen. Er sei ein sehr begabter Mensch, aber oft wirklichkeitsblind gewesen. Wie es bei sanftmütigen Menschen manchmal geschehe, hätte der Kaiser plötzliche Anwandlungen von Jähzorn gezeigt.

Die Last der Verantwortung

Solch lebendiger Geschichte lauschen die Schüler mit offenem Munde. Lange Zeit habe man dem Kaiser die Biographie des Reichskanzlers von Bülow verschweigen können, in der Kaiser Wilhelm II. mit der Vorbereitung des Krieges und der Kriegsschuld schlechthin belastet wird. Als er dann doch diese Biographie in die Hand bekam und ein Schwede eine persönliche Stellungnahme über Bülows Ansichten erbat, habe der Kaiser geantwortet: „Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass jemand noch nach seinem Tode Selbstmord begehen kann.“ Bülow hatte nämlich erst nach seinem Tode die Biographie freigegeben.

Wilhelm II. habe jeden Morgen auf Schloss Doorn seinen Tag mit einer Tasse Tee und dem Lesen eines Bibeltextes begonnen. Dass er selbst Predigten verfasst habe, sei Legende. Während der letzten Besatzungszeit durch die Deutschen habe der Kaiser einmal gesagt: „Ich war Kaiser von Gottes Gnaden, ein Auftrag, dem ich im Grunde nicht gerecht geworden bin. Einst hatte ich die Verantwortung für 60 Millionen, heute nur für sechs Menschen, und auch diese Verantwortung ist mir noch zu schwer. Als Christ kann ich auf die Gnade unseres Herrn Jesus rechnen. Aber wie soll es werden mit den Mächten des Hitlerregimes?“

Nur noch eines: einem niederländischen Reporter antwortete der Pfarrer auf die Frage: „War Wilhelm II. allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg und war der Militarismus höchstes Ziel seiner Lebens- und Weltanschauung?“ „Ich bin davon überzeugt, dass Kaiser Wilhelm jederzeit bestrebt war, als guter Christ zu leben.“ Nebenbei: Ist das nicht eine gute Antwort?

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AZ 21. / 22.7.1966

Ein Schulsystem aus europäischem Geist

Von Eltern in Luxemburg gegründet, hat es sich inzwischen schon bewährt

Wir eröffnen unsere Reihe mit einem Bericht des Kreuznacher Studienrates Clemens Schneider, der augenblicklich an der Europa-Schule in Varese (Italien) tätig ist und über das Wesen dieser Schulart aufschlussreiche Mitteilungen macht.

Durch die deutsche Presse ging vor einiger Zeit die Nachricht, dass im September dieses Jahres die erste Europaschule in der Bundesrepublik in Karlsruhe mit zwei Grundschulklassen den Unterricht beginnt. Die europäischen Schulen werden im Spielfeld der großen Planungen gewiss ebenso wirkungsweite Bedeutung erhalten wie unsere deutschen Auslandsschulen, deren Gewicht in Zeichen der Entwicklungshilfe immer deutlicher wird.

Heute zählt man bereits vier europäische Schulen: in Luxemburg, in Brüssel, in Mol-Geel, in Varese (Italien). Mit Karlsruhe und einer weiteren Gründung in Nordholland arbeiten bald sechs Schulen nach einheitlichen Richtlinien, die aus zwischenstaatlichen Übereinkommen erwachsen sind.

 

AZ 20.03.1966

Die Schulen Europas und die Europäischen Schulen

OStR Clemens Schneider

Vice-Direktor der Europäischen Schule Varese – Italien –

Der österreichische Unterrichtsminister Dr. Piffl-Percevic bezeichnete als Präsident und zugleich Gastgeber der vom Straßburger Europa-Rat einberufenen 5. Konferenz der europäischen Erziehungsminister im Oktober 1965 es als den Sinn der Tagung, angesichts des drohenden Auseinanderstrebens der Schulsysteme durch einen gründlichen Gedankenaustausch, die Pläne, die unternommenen Versuche und die Sorgen, soweit es geht, aufeinander abzustimmen. Dabei soll immer wieder die verbindende europäische Idee in den Vordergrund gestellt werden. Denn die europäische Einheit könne nicht aus Wirtschaftskonferenzen allein hervorgehen. Ob aber diese Einheit durch die Verständigung über gemeinsame Bildungszielen und Schultypen erreichbar ist, war freilich auch nach der Konferenz in Wien noch nicht endgültig festzustellen. Es fehlt weiterhin eine gemeinsame Nomenklatur.


Vielleicht die wichtigste Streitfrage handelte von der Dauer der höheren allgemeinbildenden Schulen. Sollen die Schüler möglichst lange beieinander bleiben oder sich alsbald nach Feststellung der Eignung in verschiedene Schulzweige=Züge unterteilen? Der schwedische Unterrichtsminister Edenmann berichtete über das System der Einheitsschule in Schweden; sie erfasst alle Bürger vom 7. bis zum 16. Lebensjahr fast ohne Differenzierung. Erst in der 9. Klasse kommt es zu einer Aufgliederung in zehn Bildungszweige, doch in zwei Drittel der Wochenstunden bleibt der Unterricht noch immer einheitlich. In Großbritannien beginnt die Schule mit dem 5. Lebensjahr. Die Einheitsschule erstreckt sich bis zum 11. Lebensjahr, aber auch bis zum 16. Lebensjahr versucht die Schule in England die Jugendlichen aller Begabungsrichtungen in einer gemeinsamen Schulbahn zu halten, wobei die Kinder auch den Nachmittag in der Schule verbringen. So hofft man das Gemeinschaftserlebnis stark zu fördern. Aber den Begabten wird doch eine Besonderheit eingeräumt; es ist möglich, dass eine Gruppe Latein lernt, während eine andere zur gleichen Zeit werkt oder zeichnet. In Österreich und in der Schweiz beginnt die Auffächerung wie bei uns in Deutschland nach dem 4. Volksschuljahr.

In den 4. Resolutionen wurden jedenfalls trotz der Vielfalt der nationalen Traditionen einige wesentlichen Gemeinsamkeiten deutlich.
1. Die Allgemeinbildung hat das Ziel, zum Menschen und Bürger zu erziehen.
2. Die Spezialausbildung soll mehr oder weniger auf den künftigen Beruf vorbereiten.
3. Der neusprachliche Unterricht bleibt, wie der endgültige Aufbau des Schulwesens und der Lehrsysteme in Europa aussehen wird, von außerordentlicher Bedeutung.
4. Die Prüfungen und Zeugnisse gleichen Inhalts, die auf einem ähnlichen Kenntnissstand beruhen und zu vergleichbaren Berufen führen, sollen einheitlich bezeichnet werden.

Während das erste Bildungsziel, die Allgemeinbildung, auf die gesamte Schulzeit (Primar- und Sekundarausbildung) zugeordnet ist, soll die Sekundarausbildung vor allem der Berufshinführung=Orientierung dienen.

Welchen Platz nimmt die schon bestehende, stattlich anerkannte Europäische Schule – es sind mittlerweile 6 Anstalten in verschiedenen Ländern der Europäischen Gemeinschaft – bei diesen Erörterungen ein?
Die europäische Schule stellt sich für die Erziehung zum Menschen und Bürger eine doppelte Aufgabe.
Einmal sollen die Schüler ihrem Heimatland nicht entfremdet, sondern vollwertige Bürger in ihrer Volksgemeinschaft, zum andern jedoch die `ersten Bürger eines neuen Europa` werden. Die heimischen Schulen legen das Gewicht bei der bürgerlich-politischen Erziehung mehr auf den z.B. Italiano Europeo oder europäischen Deutschen; die europäische Schule verlegt das Schwergewicht jedoch auf einen europeo italiano oder deutschen Europäer. Es soll hier keineswegs wieder einmal versucht werden, europäische Kultur zu definieren. In der Primarausbildung erhalten die Schülern an Europäischen Schulen nach Lehrplan und Stundenzahl eine den heimischen Unterrichtsanstalten vergleichbare Hinführung zu Bürgern ihres Landes. Dafür garantiert der muttersprachliche Klassenlehrer. Darüber hinaus aber bahnen die `europäischen Stunden` das Verständnis zu den anderen Ländern an. Der fremde Staat wird nicht mehr so als sehr als `Staat` sondern als eine `andere Art von Heimat` – eben die des Klassenkameraden – verstehbar gemacht. In der höheren Schule macht der gesamte Unterricht in der Muttersprache mit der Gemeinschafts- bzw. Sozialkunde als einem Unterrichtsprinzip ernst. Das bedeutet, dass der Fachlehrer seinen Stoff- und Unterrichtsplan so anlegt, dass stärker als in der Heimat gemeinschaftskundliche Themen erarbeitet werden können. Das in der 6. Klasse einstündige Fach Sozialkunde=Civisme kann diese Arbeit allein nicht leisten, da hier bereits Gesamteuropa in Längs- und Querschnitten nach Dokumentationen der Europäischen Gemeinschaften behandelt wird.
Die Merkmale der Industriekultur des zeitgenössischen Europa legen allen Ländern im Hinblick auf Wesen und Inhalt der Berufsausbildung gleiche Lösungen nahe. So führt die europäische Schule nicht besser und nicht schlechter als eine einheimische Lehranstalt in der Sekundarausbildung zu einem späteren Beruf.
Die Europäische Reifeprüfung öffnet alle Studienwege, die traditionell von Abiturienten eingeschlagen werden können. Eine Ausnahme machen gewisse technisch-mathematischen Hochschulen, die von ihren Studenten Vorsemester verlangen, vor allem in Belgien. Vergleichbar sind die vorgeschriebenen 26-wöchigen Praktika an unseren innerdeutschen Technischen Hochschulen, ohne die keine Immatrikulation möglich sind.

Vom System des Sprachunterrichts aus wurden in jüngster Zeit die europäischen Schulen als multilateral bezeichnet. Damit sollte vor einer pädagogischen Illusion gewarnt werden, da kein Schüler drei oder mehr Fremdsprachen nebeneinander lernen könne. Man befürchtet, dass die Zusammenführung von Schülern verschiedener Sprachgruppen zu einem „Sprachenbabel“ führen müsse. Aber so ist es auch nicht! Die europäischen Schulen entstanden aus dem Umstand, für den es bisher keine rechte Parallele gab: Väter verschiedener Nationalitäten wurden durch ihre Arbeit für längere Zeit zusammengeführt, und eine schulische Betreuung der Kinder wurde notwendig.
Freilich hätte jede Nation am Arbeitsort der Eltern eine eigene Schule errichten können, aber es sollte bei den Kindern für die Zukunft schon jetzt angebahnt werden, was die Väter zusammengeführt hatte: das Bild einer künftigen europäischen Völkerfamilie. In dieser Familie sollte der Eigenwert des Individuums – die Muttersprache – gewahrt, aber das Gemeinsame – die Ausbildung – Richtschnur bleiben. Dies war also nicht in erster Linie ein politischer, sondern ein pädagogischer Plan. Dabei wurde ein sprachlicher Multilateralismus (Vielsprachigkeit) vermieden, und eine Bilateralität (Zweisprachigkeit) wurde von Anfang an dem Stoff- und Lehrplan zugrunde gelegt. Jeder Schüler muss von der Grundschule an eine zweite Sprache nicht nur lernen, sondern muss sie für eine Reihe von Fächern als 2. Unterrichtssprache in der Sekundarschule beherrschen.
Es spricht für sich, dass das Englische von der 3. Klasse an für alle Schüler verbindlich und bei der Reifeprüfung zu einer wählbaren 2. oder 3. Sprache wurde. Mit der Bestimmung, dass Geschichte und Erdkunde jeweils in dieser 2. Sprache zu lehren sind, übertrug man den Lehrern eine schwierige, aber zukunftsweisende Aufgabe. Denn Lehrbücher für diese Fächer unter europäischem Aspekt waren noch zu schreiben. Die Harmonisierung der verschiedenen nationalen Lehrpläne zu einem vereinheitlichten Stoffplan ist ein Musterbeispiel für einen fruchtbaren Kompromiss; fast alle Fächer, vor allem die naturwissenschaftlich-mathematischen liegen (?) in Umfang und Schwierigkeitsgrad parallel.
Es sei noch hervorgehoben, dass der kulturpolitische Aspekt des Europaparlaments in Straßburg im März 1966 die Europäischen Schulen als Model empfohlen hat für die Lösung der Frage, wie man die Kinder der Gastarbeiter, die ja eine gesamteuropäische Erscheinung sind, schulisch betreuen könnte.

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Clemens Schneider OStR, Varese – Italien, Scuola Europea

Rheinischer Merkur vom 19.03.1966

Kann Europa in den Schulen vorbereitet werden?

Wesen und Umfang einer Allgemeinbildung im Weltmaßstab heute festzulegen, erscheint als Utopie. In Europa jedoch, wo alle nationalen Sonderentwicklungen auf einen gemeinsamen Ansatz zurückgehen, dürfte das Bemühen um eine gewisse Vereinheitlichung der Primar- und Sekundarausbildung durchaus möglich sein. Denn es ist nicht zu leugnen, dass in Westeuropa die Annäherung der Nationen untereinander eine Tatsache geworden ist. Für Reiseunternehmen, Wirtschaftskonzerne und Generalstäbe gibt es schon lange keine nationalstaatlichen Grenzen mehr. Aber eine Einigung Europas wird nicht von Wirtschaftskonferenzen allein vorbereitet. Das Verständnis und Verstehen von Volk zu Volk, näherhin von Mensch zu Mensch, ist entscheidend. Daher ist es an der Zeit, unseren jungen Menschen einen klareren Begriff von ihrer Zukunft als europäische Bürger zu geben und ihnen den Weg in dieses kommende Gemeinwesen zu ebnen.
1. Einig sind sich die Erziehungsminister Europas, wie es sich letztlich auf ihrer Konferenz in Wien gezeigt hat, über die Gliederung des Erziehungswesens in eine Primar- und Sekundarausbildung. Während sich die Primarerziehung, grob gesagt, auf das Zurechtfinden des Kindes in einer unmittelbaren Umgebung bezieht, bringt die Sekundarausbildung bereits eine Hinführung und Anleitung auf einen künftigen Beruf. Das bedeutet jedoch, dass im heutigen Rahmen die Sekundarausbildung in Stunden- und Stoffplan so angelegt wird, so dass eine spätere Berufsausbildung in allen europäischen Ländern möglich sein kann. Es werden Übereinkommen getroffen werden müssen, die einen Bildungsabschluss gewährleisten, der in allen Ländern einem in etwa gleichen Ausbildungsstand entspricht; erst dann kann man an eine Gleichwertigkeit in der Anerkennung der verschiedenen Diplome herangehen.

2. Obwohl wir ohne Zweifel einem noch stärker technisierten Zeitalter entgegengehen, muss jedoch die Priorität der Geisteswissenschaften erhalten bleiben. Denn eine Annäherung an ein anderes Volk und seine Berufsausbildung in einem anderen Staat setzt die Kenntnis der Sprache des Gastlandes voraus. Daher muss vor jeder Spezialisierung in verschiedene berufshinführende Schultypen das Studium der Fremdsprache eingesetzt haben. Hier liegt nun eine große Schwierigkeit, die in nüchternem Kompromiss gelöst werden muss: Welche Sprache soll die allgemeineuropäische werden? Es wäre wiederum eine Utopie, wollte man zu einer Kunstsprache vor- oder auf die Verlebendigung des Lateinischen zurückgreifen. Der unersetzliche Wert der Muttersprachen, deren Pflege in der Primarausbildung Hauptgegenstand ist, muss erhalten bleiben. Es hindert jedoch nicht, dass bereits in der Volksschule von der 1. Klasse an eine Fremdsprache gelehrt wird. Die ´fremde´Schuljugend, die in unmittelbarer Nähe unserer Staatsgrenzen aufwächst, beweist, dass es eine Art von Zweisprachigkeit gibt. Zu diesem Problem der Zwei- oder Mehrsprachigkeit werden sich gewichtige Gegenstimmen erheben, aber die Zeit wird über sie hinweggehen.

3. Es bleibt also die Frage offen: Welche Sprache soll ein deutsches Schulkind als 1. Fremdsprache möglichst früh lernen? Da es die Leistungskraft eines Schülers übersteigt, mehrere Fremdsprachen nebeneinander gleichzeitig zu lernen, muss notwendigerweise eine Wahl unter den europäischen Sprachen getroffen werden. Hier muss nun ein Irrtum ausgeräumt werden, der über das System der bestehenden, staatlich anerkannten Europäischen Schulen in den Europäischen Gemeinschaften durch eine allzu euphemistische Berichterstattung unserer Journalisten in der Öffentlichkeit entstanden ist. Man glaubt, dass die Europäischen Schulen mehr leisten könnten als eine normale Inlandsschule, wenn man das Sprachengewirr in unseren Gebäuden, in den Schulhöfen, bei den Schulfesten hört. Der Lehrplan einer Europäischen Schule kennt keine multilaterale Spracherziehung. Ein niederländischer Schüler lernt zwar von der 1. Klasse der Sekundarausbildung an Französisch und Deutsch, ein belgischer Schüler französischer Mundart lernt Deutsch und Niederländisch, die Franzosen aber lernen als 2. Sprache nur Deutsch, die Deutschen nur Französisch, die Italiener wählen zwischen Deutsch und Französisch. Für alle Schüler setzt in der 3. Klasse (einer innerdeutschen Untertertia) Englisch in allen Zügen an. Nun ist nicht zu leugnen, dass erstens der Fremdsprachenunterricht vom ´fremden´ Lehrer erteilt, besser sitzt und dass zweitens der Umgang mit dem anderssprachigen Klassenkamerad die Fremdsprache besser vertieft. Die Briefe unserer Abiturienten, die seit einem Jahrzehnt von Europäischen Schulen auf die Hochschulen und Universitäten der verschiedenen Ländern übergehen, bekunden einhellig, dass das Fachwissen nicht nicht besser und nicht schlechter ist, das jeder Student zum Weiterstudium mitbringt, dass aber unsere Schüler in der Kenntnis der Fremdsprachen anderen Schülern voraus sind. Damit sind sie befähigt, den Vorlesungen der ´fremden´ Professoren schneller zu folgen und sich eine breitere Studiengrundlage in kürzerer Zeit zu erarbeiten.

4. Immer ist jedoch die Frage nicht beantwortet, welche Sprache nun die 2. Sprache werden könne. Obwohl die bestehenden Europäischen Schulen der damaligen Gelegenheit gemäß die Entscheidung festgelegt haben: Französisch und Deutsch als verbindliche langue véhiculaire, d.h. als 2. Unterrichtssprache – haben sie daneben das Englische als 3. Sprache in den Lehrplan aufgenommen. Die Praxis lehrt, dass es zunächst notwendig ist, jedem Schüler eine dieser Sprachen beizubringen, dass sie wirklich beherrscht wird, d.h. dass ihr Gebrauch weit über unsere normalen Sprachkenntnisse hinausgeht. Daher erscheint es nicht so wichtig, welcher Sprache für einen deutschen Schüler der Vorzug zu geben ist. Es zeigt sich nämlich, und jeder Sprachlehrer wird es bestätigen, dass das Erlernen einer dritten und vierten Sprache wesentlich leichter vonstatten geht, wenn eine 1. Fremdsprache gründlich studiert und in einem Habitus überführt wurde.

5. Wenn hier die Wichtigkeit der Spracherlernung so überbetont wurde, so deshalb, weil die Europäischen Schulen in ihrem Lehrplan vorschreiben, dass einige Fächer in der 2. Sprache gelehrt werden. Ein deutscher Schüler z.B. der Untertertia lernt Geschichte und Erdkunde in französischer Sprache. Er könnte auch z.B. Physik oder Chemie in dieser Sprache haben, weil der französische Lehrer den gleichen Stoff in der entsprechenden Klasse wie sein deutscher Kollege behandelt. Dem Gesamtunterricht liegen nämlich vereinheitlichte Lehrpläne zugrunde, die von Schulmännern der verschiedenen Ländern zusammengestellt wurden.

6. Noch eine kurze Bemerkung zur Reifeprüfung; sie ist in den Staaten der Sechs und einigen anderen anerkannt, gleichberechtigt und gestattet die Immatrikulation in allen Hochschulen und Universitäten dieser Länder. Die Prüfungsanforderungen entsprechen dem Bildungsstand der Sekundarschulen; in allen Zügen sind drei Fremdsprachen vorgeschrieben: In der altsprachlichen Abteilung kann der Schüler neben den Pflichtfächern Latein und Griechisch eine neue Sprache wählen; meistens ist es natürlich die 2. Unterrichtssprache. Aber es kommt häufig vor, dass der Prüfling Englisch, Niederländisch oder Italienisch wählt. Im naturwissenschaftlichen Zug mit Latein wählt er eine neue Sprache als Pflichtfach für die Reifeprüfung hinzu und meist nimmt er noch eine zweite fakultativ für eine mündliche Prüfung hinzu. Entsprechend sind es in der naturwissenschaftlichen Abteilung ohne Latein zwei neue Sprachen, mit denen er sich der Prüfung unterziehen muss.

7. Natürlich bieten Lehrplan und Methoden der europäischen Schulen keine Ideallösung; die gibt es in diesem Bereich nie. Aber bei der letzten Sitzung des Europaparlaments Anfang März 1966 in Straßburg hat der kulturpolitische Ausschuss vor allem von Seiten der sozialistischen Vertreter, deren Wortführer diesmal ein Deutscher war, das System der Europäischen Schulen als gangbaren Weg für einen Schultyp herausgestellt, der das Problem der Ausbildung der Kinder unserer Gastarbeiter lösen könnte. Es kann nur so in Angriff genommen werden, dass einmal dem Schüler die jeweilige Muttersprache erhalten bleibt, zum anderen das Deutsche zur 2. Unterrichtssprache für einige Fächer wird und dass drittens alle Schüler einer solchen Schule in Fächern wie Zeichnen, Musik, Leibeserziehung, Werken und Nadelarbeit integriert werden. Es dürfte ferner keine Schule sein, die als Abschlussprüfung die Reifeprüfung anstrebt; das müsste für besonders Begabte Ausnahme bleiben. Also bleibt die Lösung eine Art ´Mittelschule´, wie der Niederländer sagt, een uitgebreid lager onderwijs, mit dem Schwerpunkt der Spracherziehung durch befähigte Pädagogen. Denn mit der Sprachenkenntnis fängt die Annäherung unter Menschen an. Ist es einmal zu einer Spezialisierung in Züge gekommen, dann ist es zu spät.

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Clemens Schneider OStR, Varese – Italien, Scuola Europea, 1964

unveröffentlicht?

Begegnungsschule – Europagedanke – Vaterland – Weltbürgertum

„Auch in unseren Auslandsschulen spiegeln sich die revolutionären Vorgänger, die unsere Zeit kennzeichnen. Es wäre kurzsichtig, wenn wir starr auf das Alte und Vergangene blickten und es unverändert festhalten wollten. Wir müssen elastisch und beweglich bleiben, damit Überholtes abstirbt und Neues seine Pflege, Läuterung und Vertiefung findet. Wenn aber deutsche Auslandsschule einen Sinn behalten soll, so muss bei allen Änderungen in Organisationen und innerem Gehalt das eine Hauptziel unverrückbar festgehalten werden: Sie muss die deutschsprachigen Kinder, die in fremder Umgebung aufgewachsen, bei ihrer Muttersprache halten, den Söhnen und Töchtern fremder Nationen und Sprachen, die sie besuchen, den Zugang zu deutscher Sprache und Kultur öffnen und auf diese Weise bei voller Achtung nationaler Eigenart zur Verständigung und Freundschaft unter den Völkern beitragen.“ (Präsident Dr. Löffler beim zweiten Vorbereitungskurs, August 1956 auf Gut Burg)

Die gleiche Stimme erfährt in Heft 9, September 62 der Zeitschrift ´Recht und Wirtschaft der Schule´ fort: „Im Übrigen wird die Zukunft eine Reihe von neuen Problemen stellen, die einer sorgfältigen Prüfung durch die oberen Instanzen bedürfen, eingehende Untersuchungen und grundsätzliche Entscheidungen erfordern. Die Zahl der übernationalen Schulen in Europa wird wachsen, sie werden vielleicht da und dort deutsche Auslandsschulen auf fremden Staatsgebiet überflüssig machen. Es taucht die Frage auf, ob es richtig ist, dass die großen europäischen Länder weiterhin in Übersee Schulen unterstützen oder unterhalten, in denen sie den fremdsprachigen Bürgern dieser Länder jeweils ihre besondere nationale Sprache und Kultur vermitteln, oder ob nicht an die Stelle solcher nationalen Auslandsschulden übernationale Schulen treten sollten, in denen im Zusammenwirken verschiedener Staaten gesamteuropäische Schularbeit geleistet wird. Auch bei der Bildungshilfe, die den Entwicklungsländern durch Einrichtung von Schulen zuteil wird, und bei den Kulturinstituten, die in steigendem Maße auf deren Gebiet gegründet werden, wäre ein Zusammenwirken europäischer Länder denkbar. Die dabei sich bildende kulturelle Gemeinschaft Europas würde die erstrebte wirtschaftliche und menschliche Gemeinschaft vorbereiten und vorzeichnen. Dass auch in Zukunft die Schularbeit in irgendeiner Form dasjenige Gebiet der deutschen Kulturarbeit im Ausland sein wird, von dem die stärksten Wirkungen in die Breite und in die Tiefe ausgehen können, ist trotz der Kritik, die gelegentlich laut wird, nicht zu bestreiten. … Die Behandlung der Probleme der deutschen Schulen im Ausland im vorgeschlagenen Sinne, gemeint ist die Errichtung einer Anstalt veröffentlichten Rechtes durch ein Abkommen zwischen Bund und Ländern, könnte nicht nur zu einem organischen Zusammenwirken zwischen Bund und Ländern führen, sondern auch diese Arbeit auf allen Gebieten vereinfachen, erleichtern, vertiefen, ihr neue Impulse geben und sie der veränderten Zeit und Welt besser anpassen.“ DdLiA,2/63)

In diesen zitierten Gedanken steckt mein Thema; es ist auch das Bild der künftigen D A angedeutet. Wir müssen uns glücklich schätzen, dass eine Persönlichkeit, die das deutsche und fremde Auslandsschulwesen besser kennt als wir Lehrer, die wir meist nur „unsere Schule“ noch als Mitarbeiter oder aus der Erinnerung sehen, eine Persönlichkeit, die das deutsche Auslandsschulwesen von höherer Warte überblickt und von seinen jeweiligen Besonderheiten mehr weiß als jede Statistik, so zeitgemäß und praktisch die Problematik unseres Schulwesens aber deutet.

I. Begegnungsschule

Der Begriff Begegnungsschule für deutsche Auslandsschulen ist eine Schöpfung der Sprache in der verwalteten Welt. Deshalb findet man diese Kennzeichnung bei ihrem ersten Auftauchen noch meist mit Anführungszeichen oder einem „sogenannt“ versehen. Ich selbst hörte dieses Wort zum ersten Mal auf dem 1. Vorbereitungskurs 1955 in einem Referat über „deutsche Kulturpolitik“ und dann kehrte es turnusgemäß wieder, wurde druckreif, und im letzten Maiheft unserer Zeitschrift in einem Aufsatz zur „Statistik der Auslandsschulen“ verwendet es der Schriftleiter zur Kennzeichnung der Auslandsschulen in Europa. Es heißt dort: „In Europa liegt der Schwerpunkt der deutschen Auslandsschularbeit in Spanien und Italien. Es handelt sich um ausgesprochene Begegnungsschulen.“ Dann noch einmal (S. 138): „Zusammenfassend kann man also sagen, dass die deutschen Schulen in Südeuropa ausgesprochene Begegnungsschulen sind, eben so in Helsinki; im mittel- und nordeuropäischen Raum dagegen dienen sie mehr den deutschen Kolonien in den Hauptstädten.“ Dagegen dehnt Kollege Arthur Kaltofen, La Paz, (Heft 6/61) das Wort auch auf alle Schulen im spanischen Sprachbereich Südamerikas aus: „Aus mancherlei Gründen erhalten die deutschen Unterrichtsinstitute in Süd- und Mittelamerika mehr und mehr den Charakter von Begegnungsschulen.“ Auf dem 6. Vorbereitungskurs, August 1959 in Kassel, auf dem 7. und 8. Kurs, Juni/Juli 1960 wurde die Lage unserer Auslandsschulen so umrissen: „Nach dem 2. Weltkrieg begann 1950 nach und nach der Wiederaufbau der Auslandsschulen. Zwar wurde das beschlagnahmte Eigentum den deutschen Schulträgern teilweise zurückgegeben; im Allgemeinen aber standen sie vor völligem Vermögensverlust, so dass eine verstärkte Finanzierung durch die Bundesrepublik erforderlich wurde. Der Charakter der Schulen hat sich nach dem Krieg verändert. Sie sind heute nicht mehr nur Anstalten für schulpflichtige, deutschstämmige Kinder, sondern in größerem Ausmaß als früher Begegnungsschulen, in die in z.T. großer Zahl auch Kinder des Gastlandes und anderer Nationen aufgenommen werden.“ Diese gemeinschaftliche Schulausbildung ist die Grundlage für bleibende Verbindungen von Mensch zu Mensch, zwischen Angehörigen verschiedener Nationen.

In diesem Sinn jedoch waren unsere Auslandsschulen immer schon Begegnungsschulen, wenn sie auch nur einen einzigen Schüler fremder Nationalität aufgenommen hatten. Nur soll heute die Erschütterung des Vertrauens vor dem Wort „deutsch“ und der damit verbundenen Kulturpolitik mit dem euphemistischen Etikett „Begegnungsschule“ der sanften Diplomatensprache überwunden werden. Hierzu zitiere ich aus dem Jahresbericht einer deutschen Auslandsschule den Gedankengang eines klugen Schulleiters: „Man pflegt uns auch Begegnungsschule zu nennen, aber im Grunde müssen sich ausländische Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder für unsere Schule entscheiden, dass es nicht bloß bei einer Begegnung bleiben kann. Wir werden ihre Kinder neun Jahre hindurch in deutscher Sprache unterrichten und ihnen gewollt oder ungewollt in unserem Kulturkreis Lebensrecht und Weltbild vermitteln.“

Offensichtlich trägt die Charakterisierung „Begegnungsschule“ dem heutigen Entwicklungsschwund der nationalen Souveränität Rechnung. Jeder neu hinausgehende Lehrer wird das Erlöschen unserer deutschen Nationalität als einer gesellschaftsprägenden objektiven Kraft empfinden.

In den Lageberichten unserer Auslandslehrer spürt man, dass sich Kulturpolitik als Ausdruck einer nationalen Organisation zu einem lebensgefährlichen Hindernis für unsere Auslandsschulen entwickeln kann. Herr Oberschulrat Jaenischen weist in Heft 8/61 daraufhin, dass von ihrer allgemein pädagogischen Haltung her die deutsche Auslandsschule zwar immer noch, und sei sie auch von fremden Schüler durchsetzt, in mancher Beziehung den Schulen im Inland gleichen. Aber die Erfüllung der unterrichtlichen Ziele gestalte sich immer uneinheitlicher. Die Überbrückung der Kluft zwischen den Auffassungen im deutschen und fremden Bildungsplan werde in Zukunft alle unsere Auslandsschulen beschäftigen. Er sagt klar, dass eine Aufteilung der Schule in parallele Klassenzüge für deutsche und fremdsprachige Schüler zwar für den Unterrichtserfolg eine Hilfe sein könne, aber im Sinne der menschlichen Begegnung dieser Schüler kein Gewinn ist. Mit anderen Worten: Wenn ein Schulleiter, um den Prüfungsanforderungen des Gastlandes einerseits und den Minimalforderungen der deutschen Prüfungskommission andererseits gerecht zu werden, den Klassenverband aufgelöst, dann schaltet ein solches System die erstrebte Begegnung in der kleinsten persönlichsten Gemeinschaft aus. Die von der Bundesrepublik beurlaubten Lehrer allein machen noch keine Begegnungsschule; der integrierte Unterricht im Klassenverband allein ist die Begegnung.

Daher muss die heutige D A, um mit Recht den Namen Begegnungsschule tragen zu können, einen Lehr- und Stoffplan und eine Prüfungsordnung anstreben, die von unserer Kultusministerkonferenz und dem Gastland ausgehandelt werden. Wenn die deutsche Unterrichtssprache so weit zurückgedrängt wird, dass sie ihre adäquate Stellung neben der Sprache des Gastlandes in der Zahl der Fächer und den Unterrichtsstunden verliert, dann sollte man einer solchen Schule den Namen „deutsche Schule-Stätte der Begegnung“ entziehen. Wir kommen nicht an der Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit unserer Auslandsschulen vorbei: Sie muss das Unterrichtsprinzip sein. Von diesem Unterrichtsprinzip aus haben alle Überlegungen der Anstaltsgründung und Anstaltserhaltung, der Lehrpläne, der Prüfungen, der Auslese etc. auszugehen. Wir müssen erwarten, dass die BR mit dem Geschick und Erfolg mit allen Staaten, denen an einer Begegnung mit uns gelegen ist, Schulabkommen trifft, die eine partnerschaftliche Begegnung gewährleisten. …

II. Europagedanke

Die Zahl der D A außerhalb Europas ist groß: 78 in Afrika, Asien, in Südamerika allein 52. Für die Angehörigen dieser Völker ist die deutsche Kultur vor allem auch ein Ausdruck europäischer Geisteshaltung. In räumlicher und geistiger Fernsicht versinken für die überseeischen Nationen die nationalen Unterschiede in Europa. Europa ist für sie eine geistige Einheit. Für Konzernverwaltungen, Flug- und Reisegesellschaften, für Generalsstäbe existiert im westlichen Europa der Begriff Ausland nicht mehr. Im 19. Jahrhundert war eine souveräne Nation in Europa noch Organisationsprinzip. Heute ist die Souveränität zur völkerrechtlichen Fiktion zusammengeschrumpft. Die Europäischen Gemeinschaften sind ein nicht weg zu leugnendes Beispiel hierfür. Der fremdsprachige Schüler an einer D A möchte deutsche Kultur als integrierendem Teil Europas begegnen. Und hier liegt eine neue wichtige Aufgabe der D A: Sie vertritt und formt das Verhältnis zu Europa. (OschR Jaenischen, Heft 8/61): „Wesentlich für eine so verstandene Aufgabe ist es freilich, dass die geistigen Gehalte des Unterrichts in allen Fächern europäisch gewählt werden. Nicht das eigenwillige Anderssein gegenüber Europa darf den Geist des Unterrichts bestimmen, sondern was in deutscher Kultur universellen und weltbürgerlichen Charakter aufweist. Der deutsche Lehrer draußen erlebt sich selbst als Europäer und versagt sich jedem nationalen Egoismus, der den Zusammenschluss unter den Völkern verhindert.“ Geändert hat sich also unter dem Einfluss der kulturpolitischen Metamorphose der Heimat nach 1945 unsere Auffassung von der Aufgabe des deutschen Bildungswesens im Ausland. …

Im einzelnen ist anzuführen, dass von den vier Sprachabteilungen die französische Gruppe am stärksten sein muss, da zu den französischen Schülern noch die belgischen französischer Muttersprache hinzukommen. Schon der Grundschüler hat sich für eine der Ergänzungssprachen zu entscheiden. In Luxemburg und Brüssel geht dies verhältnismäßig glatt, in Varese tritt die Landessprache Italienisch hinzu. Franzosen müssen deutsch, Deutsche müssen französisch. Italiener können entweder die eine oder die andere Sprache wählen. In der Grundschule werden alle Kinder ohne Rücksicht auf die Muttersprache in den sog. Europäischen Stunden zu einer Klasse vereinigt, in der die Ergänzungssprachen abwechselnd gebraucht werden. In der höheren Schule wird mit Latein in der 2., mit Englisch in der 3. Klasse eingesetzt, dann gabelt sich die vierklassige Oberstufe etwa wie bei uns in altsprachlich, naturwissenschaftlich, neusprachlich. …

Ich möchte einen Satz aus der Arbeit Dr. Döhners anführen: „Manche Regelung wurde hingenommen, weil man grundsätzlich den Europa-Gedanken und die ihm dienende Schule bejahte und weil man erwarten darf, dass in Zukunft sich noch manche Dinge aus der Erfahrung der Praxis wandeln werden.“ Was uns hier beschäftigt , ist die Frage, ob diese neue, wirklich neue Schulform geeignet ist, europäisch zu erziehen oder ob wir einem Phantom nachjagen. Ich kenne das Erziehungsziel einer deutsch ausgerichteten Deutschen Schule im Ausland (Den Haag): Sie erzieht, wie die genehmigten Lehrpläne es erstrebten, zu deutschem Denken. Ich kenne nun auch seit vier Jahren die europäische Schule in Varese und muss sagen, dass sie in der Tat zu europäischem Denken erzieht. … Bevor wir nämlich Europa bauen, müssen wir zuerst Europäer erziehen. … Um über die Nation hinaus nach Europa zu gelangen, kann man ausgehen von der Verantwortung den Einzelnen für seine Gemeinde und den Staat; man kann aber auch ausgehen von der Verantwortung des Menschen für seinen Nächsten im anderen Volk. Diesen letzteren Weg schlägt die europäische Schule ein: Mein Nächster ist mein Klassenkamerad neben mir – und nicht irgendeiner irgendwo. Das scheint auch die Antwort auf die Frage zu sein, ob wir anstelle des bisherigen staatlichen Nationalismus einen neuen kleineuropäischen Nationalismus eintauschen. Wie steht es mit dem Vaterland der Vaterländer? „A ma conception de l´europe des patries comme troisieme puissance mondiale …“ (Gen. De Gaulle vor der Acad. Milit.). Von hierher erklären sich alle scheinbaren widersprechenden Entscheidungen des französischen Präsidenten: Weigerung der Aufnahme Englands in den gemeinsamen Markt, die Einsprüche in der NATO und das Zögern den USA gegenüber, die Normalisierung auf Rotchina hin. Er hält einen europäischen Bundesstaat für verfrüht, daher gibt er sich mit einem europäischen Staatenbund als erreichbarem Ziel zufrieden. Der Vergleich mit dem Vaterland der Vaterländer des untergegangenen Habsburger Reiches drängt sich auf, aber dieser wurde seinerzeit unter völlig anderen Voraussetzungen in einen erwachenden Nationalismus hinein geplant. In den Schulen wurde damals die jeweilige Muttersprache als einzige und für alle Fächer gefordert. Die europäischen Schulen gehen einen gänzlich anderen Weg. Die Muttersprachen treten gleichwertig nebeneinander, und die 2. Unterrichtssprache weitet den Geist des Schülers für ein künftiges europäisches Gemeinwesen. …

Ich bin überzeugt, dass damit mit einem Schlag jede Diskussion über die Zweckmäßigkeit oder ein Fortbestehen unserer Auslandsschulen ausgeräumt ist. Zum andern kann die über 10 Jahre bestehende Europäische Schule in ihrem Modell zum Heilmittel für die in unserer Zeitschrift immer wieder geschilderten Schwierigkeiten in Spanien, Südamerika, Südafrika werden: Für deutsche und fremdsprachige Schüler bleibt die Muttersprache die Stammsprache, für die deutschen Schüler wird die Sprache des Gastlandes, für die fremdsprachigen Schüler die deutsche Sprache zur 2. Unterrichtssprache und führt in bestimmten Fächern zur Integration der Klassen horizontal im Stundenplan. Als Krönung muss die Abschlussprüfung sowohl für Deutschland als auch für das Gastland gültig sein.

III. Vaterland – Weltbürgertum

Es liegt im Begriff jeder Herkunft, dass man sich nie ganz von ihr trennt; aber ebenso liegt es in ihrem Begriff, dass man sich jeden Tag von ihr entfernt. Sehr aufschlussreich hierzu ist ein Aufsatz des verstorbenen, hochverdienten Schriftleiters unserer Zeitschrift, Herrn Dr. Berger, (Heft 1/63) „Chiledeutsch – Deutschchilenen“. Dieser Darstellung eines wesentlich volkspsychologischen Problems liegen die persönlichen Erfahrungen Dr. Bergers zugrunde, die sich über einen Zeitraum von mehr als vierzig Jahren erstrecken. Seine Ausführungen seien stellvertretend für manche Aufsätze, die zur gleichen Feststellung kommen. „Der Abschied von unserem Vaterland war sehr hart, dennoch gereut es uns nicht, denn hier sind wir in ein Land der Freiheit gekommen. … Wir träumen uns aber die Einöde bevölkert mit Brüdern und Schwestern aus dem alten, teuren Vaterland“, heißt es dort. Aber unabwendbar werden die Kinder und Kindeskinder jener Auswanderer ihr altes Vaterland verlieren und ein neues gewinnen. Natürlich ist es selbstverständlich, und hierin äußert sich gewiss das bei jedem Volk im Unterbewussten verankerte Gemeinschaftsgefühl, dass jeder Verlust an wertvollen Menschen des eigenen Volkstums schmerzlich ist. Aber, so fragt Dr. Berger, „ist nicht dieser Prozess bis in die allerjüngste Gegenwart tragisch und vernichtend im Fluss?“ Wir wollen Nationalität nicht mit Vaterland verwechseln. Frankfurt a.Oder ist psychologisch, politisch, geographisch zu einer Expedition geworden, während New York vor der Türe liegt, schreibt ein bekannter Journalist in der „Zeit“ am 5.6. Wir aus der Bundesrepublik sind gewiss nicht das ganze Vaterland. Ich wage sogar festzustellen, dass die von der Zone unterhaltenen Auslandsschulen auch vaterländische Arbeit leisten, überall dort, wo sie unsere Muttersprache pflegen, auch wenn sie nur als Mittel zum Zweck degradiert wird. Wir Deutsche haben es relativ spät zu einer nationalen Identität gebracht, und wir haben uns ihrer nie sehr sicher gefühlt. Nationalität lässt sich rein administrativ und von außen, von einem Jahr aufs andere, zunichte machen. Vaterland aber hängt, wir wissen es seit Herder, mit der Muttersprache zusammen. Ich frage anders: Sind Theodor Fontane, Adalbert von Chamisso, Hans Carossa und viele, viel andere „vaterlandslose Gesellen“, weil sie deutsch-patriotisch fühlen, denken und schreiben? Die D A will keine nationale Schule mehr sein, sondern eine vaterländische, denn sie geht durch ihre Öffnung für jeden, der an ihr teilhaben will, jedem Nationalismus aus dem Weg und fördert bewusst die vaterländischen Werte bei allen Schülern unmittelbar oder mittelbar. Der Auslandslehrer soll seine Nationalität nur in seinem Pass mittragen, der morgen schon abläuft; sein Vaterland aber wird er umso mehr lieben, je länger er draußen arbeiten darf.

Diese vaterländische Gesinnung findet auch den einzig möglichen Weg, der für uns Deutsche draußen gangbar ist und bleiben wird: Selbstbescheidung, die der deutschen Wirklichkeit als einer Macht zweiter Ordnung mit beschränktem Potenzial entspricht. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass jene vaterländische Aufgabe, die einst den Kern der Reichsidee bildete: die übernationale europäische Friedensordnung, nunmehr auf alle Vaterländer dieses Kulturkreises gemeinsam übergegangen ist. Die D A nimmt teil an dieser Aufgabe, an der Selbstverwirklichung Europas – auf unserm Kontinent oder in Übersee. Sie muss, was immer sie an pädagogischer Erfahrung, an ordnender Kraft aus Generationen von Auslandslehrern und ihren Schülern gewonnen hat, in die europäische Einigung einbringen, ohne dafür Vorherrschaft zu fordern – aber auch ohne ihre vaterländische Aufgabe preiszugeben.

Die Einheit der Menschheit aber, der die Geschichte zustrebt – dafür ist auch das ein Zeichen, dass heute alle Konflikte Weltmaßstab annehmen – , wird ebenso wenig wie die Europäische im Schmelztiegel entstehen, sondern durch föderalen Zusammenschluss.Wie lange das dauern wird, weiß niemand. Aber wir wissen, dass wir bei Europa anfangen müssen, mit dem also, was uns zur Hand liegt. Diesem Vorhaben wird nicht zuletzt dadurch gedient, dass die Deutschen ihr Gemeinwesen, aber ohne die Absicht, sich als Schulmeister der anderen aufzuspielen, vorbildlich gestalten: eine Ordnung in Freiheit, gerecht für alle, in gleichmäßigem Wohlstand, produktiv in Kultur und Technik, modern und den Problemen der Zukunft gewachsen. All das fängt mit der Schule an. Ist das nicht genug?