Kaiser Wilhelm II im Exil

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Allgemeiner Anzeiger 21.11.1958

Kaiser Wilhelm II im Exil
Direktor Schneider berichtet aus der Deutschen Schule in Den Haag

Direktor Clemens Schneider von der Deutschen Schule in Den Haag – er war früher Studienrat an der Elisabeth-Charlotte-Schule in Bad Kreuznach – schickte uns aus seinem holländischen Wirkungskreis folgende Betrachtung:

Am 10. November1918 meldete sich bei dem Sergeanten Pinckaers an dem belgisch-niederländischen Grenzort Eysden Kaiser Wilhelm II. mit einem Gefolge hohe Offiziere und bat um die Erlaubnis, auf niederländisches Hoheitsgebiet übertreten zu dürfen. Die kaiserliche Kutsche, an deren Türen die Embleme des kaiserlichen Hauptquartiers unkenntlich gemacht worden waren, durfte passieren. Sie wartete, bis am Nachmittag der kaiserliche Eisenbahnzug ebenfalls in die Station ein fahren durfte. Eine Nacht verbrachten Majestät im Schlafwagen des Extrazuges. Unterdessen rang sich die niederländische Regierung in Den Haag zu dem schweren Entschluss durch, dem flüchtigen Kaiser Exil auf holländischem Boden zu gewähren.
Es ist das ausschließliche Verdienst Königin Wilhelminas, dass es nicht zu einem ersten Nürnberg gekommen ist. Der Kaiser wurde nicht als Kriegsverbrecher nach Frankreich ausgeliefert. Er erhielt Gastfreiheit unter der Bedingung, dass er sich nicht mehr politisch betätige. Am 11. November gestattete man dem kaiserlichen Extrazug, nach Amerongen weiterzufahren. Bei Graf Bentinck auf Schloss Amerongen fand der Kaiser Aufnahme und unterzeichnete dort am 28. November die Abdankungsurkunde. An der Straße Amerongen – Utrecht, acht Kilometer von Amerongen entfernt, kaufte der Kaiser den Landsitz Doorn, in den er 1920 übersiedelte. In dem gleichen Jahr 1920 starb seine Gemahlin Kaiserin Auguste Viktoria. Zwei Jahre später schloss der Kaiser eine zweite Ehe mit Prinzessin Hermine von Schönaich-Carolath. Er selber verstarb 1941 im Hause Doorn. Nach dem zweiten Weltkrieg beschlagnahmte die niederländische Regierung das Haus Doorn. Heute ist es Museum und jährlich schreiten die Touristen durch Park und Gemächer, um zu schauen, wo der letzte regierende Hohenzoller seinen Lebensabend verbrachte.
Seelsorger des Kaisers
Was bis jetzt gesagt wurde, könnte man in einer Biographie auch nachlesen. Aber die Erinnerung an Wilhelm II. wird wach, wenn die Schüler der Deutschen Schule in Den Haag ihren Religionslehrer, den Seelsorger der deutsch-evangelischen Gemeinde, Pfarrer P. Kaetzke, bestürmen: „Herr Pfarrer, erzählen Sie uns bitte von Kaiser Wilhelm!“ Sie tun das oft, denn Pfarrer Kaeztke betreute den Kaiser von 1914 bis 1918 als Seelsorger und Prediger. Er war beim Hinscheiden des Kaisers zugegen. Daher weiß er soviel aus den häufigen Unterhaltungen mit dem Monarchen.
Er sei ein sanftmütiger Mensch gewesen, der sein ganzes Leben lang unter der körperlichen Behinderung des verkürzten, versteiften linken Armes gelitten habe. Wie es dazu gekommen sei? Als Kleinkind sei der Kaiser durch die Unachtsamkeit der Gouvernante von einem Tisch gefallen. Diese habe aus Furcht vor der strengen Kaiserinmutter den Unfall verschwiegen. So sei frühzeitige ärztliche Hilfe versäumt worden. Wilhelm habe später eine strenge preußische Erziehung mitgemacht, musste einhändig reiten lernen, habe aber nie diese körperliche Behinderung verschmerzt, ja, es seien daher wohl gewisse Komplexe zu verstehen. Er sei ein sehr begabter Mensch, aber oft wirklichkeitsblind gewesen. Wie es bei sanftmütigen Menschen manchmal geschehe, hätte der Kaiser plötzliche Anwandlungen von Jähzorn gezeigt.

Die Last der Verantwortung
Solch lebendiger Geschichte lauschen die Schüler mit offenem Munde. Lange Zeit habe man dem Kaiser die Biographie des Reichskanzlers von Bülow verschweigen können, in der Kaiser Wilhelm II. mit der Vorbereitung des Krieges und der Kriegsschuld schlechthin belastet wird. Als er dann doch diese Biographie in die Hand bekam und ein Schwede eine persönliche Stellungnahme über Bülows Ansichten erbat, habe der Kaiser geantwortet: „Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass jemand noch nach seinem Tode Selbstmord begehen kann.“ Bülow hatte nämlich erst nach seinem Tode die Biographie freigegeben.
Wilhelm II. habe jeden Morgen auf Schloss Doorn seinen Tag mit einer Tasse Tee und dem Lesen eines Bibeltextes begonnen. Dass er selbst Predigten verfasst habe, sei Legende. Während der letzten Besatzungszeit durch die Deutschen habe der Kaiser einmal gesagt: „Ich war Kaiser von Gottes Gnaden, ein Auftrag, dem ich im Grunde nicht gerecht geworden bin. Einst hatte ich die Verantwortung für 60 Millionen, heute nur für sechs Menschen, und auch diese Verantwortung ist mir noch zu schwer. Als Christ kann ich auf die Gnade unseres Herrn Jesus rechnen. Aber wie soll es werden mit den Mächten des Hitlerregimes?“
Nur noch eines: einem niederländischen Reporter antwortete der Pfarrer auf die Frage: „War Wilhelm II. allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg und war der Militarismus höchstes Ziel seiner Lebens- und Weltanschauung?“ „Ich bin davon überzeugt, dass Kaiser Wilhelm jederzeit bestrebt war, als guter Christ zu leben.“ Nebenbei: Ist das nicht eine gute Antwort?